Wenn wir Gewalt nicht als solche erkennen
Heute habe ich ein sehr ernstes Thema für dich, das besonders in der stillsten Zeit des Jahres stark spürbar wird. Denn gerade zu Weihnachten sitzt die emotionale Gewalt oft mit am Familientisch.
Vielleicht kennst du die eine oder andere dieser Aussagen aus deinem Umfeld: „Stell dich nicht so an, so schlimm ist das doch gar nicht“, „Sie ist aber auch wirklich hysterisch, kein Wunder, dass ihm manchmal der Kragen platzt “. „Er liebt mich halt so stark, dass er nicht anders kann“. Wir verharmlosen emotionale Gewalt gern, weil sie uns oft gar nicht als solche bewusst ist. Viel Leid blenden wir oft schon unser ganzes Leben lang aus und reden das, was passiert ist, klein, um unser Bild von einer heilen Welt nicht zu beschädigen.
Denn, wenn Menschen irgendwann erkennen, dass es sich bei vielem, was sie erlebt haben, um Gewalt handelt, dann wollen sie sich erst einmal davor schützen, es überhaupt bewusst zu wissen.
Die meisten Formen emotionaler oder psychischer Gewalt sind Folgen von Machtmissbrauch. Dazu gehören beispielsweise Demütigungen, Abwertung, Beschämung, Drohungen, Einschüchterung, Isolation, Schweigen als Strafe, absichtliches Verwirren (Gaslighting) und übermäßige Kontrolle.
In der Kindheit fängt es an
Kommen dir folgende Sätze bekannt vor? „Wenn du das tust, dann geht die Mami weg und redet nicht mehr mit dir“, „Hör auf zu weinen, oder ich gebe dir einen Grund zu weinen“, „Sei nicht so empfindlich, was bist du denn für ein Waschlappen?“ oder „Friss nicht so viel, du bist eh schon so dick“. Viele Menschen kennen das aus ihrer Kindheit und leiden auch im Erwachsenenleben oft unter lieblosen Partnern, die den so „gewohnten“ Umgang nahtlos fortsetzen. Emotionale Gewalt ist aber nicht nur in Partnerschaften und Familien, sondern auch in Institutionen, wie Unternehmen oder Organisationen weit verbreitet – Stichwort „Mobbing“ oder sexuelle Belästigung.
Täter-Opfer-Umkehr
Viele von uns leiden darunter, dass sie von anderen permanent kritisiert oder sogar bloßgestellt werden. Sie haben dann ständig Angst, etwas falsch zu machen. Diese Form der Gewalt wird auch manchmal humorvoll eingesetzt und als „harmloses“ Stickeln, Spotten oder zynischer Kommentar getarnt, gern mit dem Nachsatz: „Sei doch nicht so empfindlich.“ Dadurch bekommt die betroffene Person gleich auch noch die Schuld zugeschrieben, während sie gerade Gewalt erfährt. Es erfolgt also eine Täter-Opfer-Umkehr. Dadurch entsteht der Eindruck: „Ich behandle dich ja nur so, weil du so und so bist. Du zwingst mich dazu, so mit dir umzugehen.“ Darüber hinaus wird der betroffenen Person ihre Wahrnehmung und ihr Empfinden der Situation abgesprochen. „Es ist ja gar nicht so schlimm, was dir hier gerade widerfährt.“
Selbstbewusstsein und Glaubwürdigkeit
Wenn wir in einer wichtigen Beziehung ständig abgewertet werden, verändert das unsere Persönlichkeit. Wir verlieren unser Selbstbewusstsein und beginnen uns selbst abzuwerten. Außerdem können Betroffene die erlittene emotionale Gewalt oft nicht mehr klar in Worte fassen und Dritte glauben ihnen deshalb gar nicht, dass überhaupt etwas Schlimmes passiert ist. Die Betroffenen werden dadurch immer unsicherer, ziehen sich zurück und verfallen in Schweigen.
Schweigen und Liebesentzug
Wer in seiner Kindheit mit Schweigen und Liebesentzug bestraft wurde, findet sich auch als Erwachsener oft in Beziehungen wieder, in denen diese Form von emotionaler Gewalt ausgeübt wird. Dabei wird Entzug von Kommunikation oft über Tage oder Wochen als Strafe oder Kontrollinstrument eingesetzt. Das Opfer wird bewusst isoliert, um Macht auszuüben und muss hilflos warten, bis sich der Täter wieder meldet.
Kontrolle als Machtausübung
In vielen Beziehungen setzt ein Partner Kontrollmechanismen ein, um den anderen Partner zu entwerten oder zu isolieren. Menschen werden dabei oft subtil überwacht – „mit wem warst du gestern unterwegs?“ – und bei Regelverletzungen beispielsweise mit Liebesentzug, Schweigen oder Ghosting bestraft.
So kommt es vor, dass ein Partner dem anderen etwa den Kontakt zu Freunden oder Kollegen verbietet oder bestimmt. Das ist ein massiver Übergriff in die Selbstbestimmung der betroffenen Person, und Eifersucht ist dafür keine Entschuldigung, sondern ein beunruhigendes Motiv, das alle Alarmglocken schrillen lassen sollte, weil es meist in der Folge zu noch mehr Gewalt führt.
Auch die ständige Kontrolle über Alltag und Ressourcen ist emotionale Gewalt und kann verheerende Folgen haben. Sobald die eine Person bestimmt, was die andere Person wann zu tun hat, wo sie zu sein hat, übt sie Macht aus. Das wird oft Thema, wenn ein Partner über mehr Geld verfügt und den Zugang zu finanziellen Mitteln für den anderen einschränkt.
Emotionale Erpressung und Eifersucht
Emotionale Erpressung kann beispielsweise bedeuten, dass der Partner sagt: „Wenn du mich verlässt, dann tue ich mir etwas an“. Diese Drohung weitet sich dann oft aus in: „…dann tue ich DIR etwas an“ und stellt eine massive psychische Gewaltform dar.
Hier wird Liebe mit Gewalt verwechselt und es wird versucht, den anderen Menschen seiner Freiheit zu berauben. Wenn ein Beziehungspartner in solch eine krankhafte Eifersucht abgleitet, werden auch oft Eifersuchtsdramen inszeniert, in denen sich der eifersüchtige Mensch als tief getroffene, leidende Opferfigur darstellt. Er versucht dann auch oft den Beziehungspartner immer mehr zu isolieren und die Gewaltspirale beginnt sich zu drehen. So wird krankhafte Eifersucht leider zum besten Nährboden für Femizide.
Emotionale Gewalt erkennen
Wenn du nun den Verdacht hast, dass du emotionaler Gewalt ausgesetzt bist oder jemanden kennst, der es sein könnte, kannst du einige Fragen stellen:
- Fühle ich mich in meiner Beziehung sicher?
- Habe ich Angst vor der Reaktion des anderen, wenn ich zum Beispiel Nein sage oder eine Grenze setze?
- Muss ich mein Verhalten an bestimmte Regeln anpassen?
- Werde ich regelmäßig als „zu sensibel“ oder „verrückt“ dargestellt?
- Wechselt mein Gegenüber zwischen Gefühlskälte, Drohung und übertriebener Zuwendung?
- Werde ich überwacht?
Hilfe suchen und sich schützen
Wenn du emotionale Gewalt erfährst, gibt es Notfall- und Beratungsstellen, die dich unterstützen. Es ist wichtig, sich Hilfe zu holen und auch andere dabei zu unterstützen. Hier findest du alle wichtigen Kontakte für deinen ersten Schritt: